Buben zeichnen Autos und Mädchen Pferde

Julkaistu teoksessa: Billmayer, Franz (Hrsg.) 2013 Schwierige Schülerinnen im Kunstunterricht. Flensburg University Press. 

Jouko Pullinen & Antti Lokka

 

Bildende Kunst oder visuelle Kultur

Die finnische Grundschule wurde in der Pisa-Untersuchung als erstklassiges System ausgezeichnet, dennoch haben finnische Kinder keinen Spaß an der Schule. Das finnische Erziehungsministerium hat eine umfangreiche Untersuchung[1] zu den Fächern Musik, Kunst und Werken durchgeführt. Die Ergebnisse in diesen Disziplinen sind alles Andere als erste Klasse. In Kunst und kunstähnlichen Fächern gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen Lehrplan und Schulpraxis und die meisten SchülerInnen erreichen in den genannten Fächern im besten Fall nur befriedigende Ergebnisse. Der traurigste Teil dieser Studie zeigt, dass im Besonderen Buben den Kunstunterricht nicht mögen und im Kunstunterricht Lernschwierigkeiten haben.

Warum ist das so? Warum sind Buben am schulischen Kunstunterricht nicht interessiert und warum finden sie die Kunst nicht anderweitig attraktiv oder sinnvoll?[2] Für diesen Artikel diskutierten wir diese Fragen mit Riita Vira, einer erfahrenen Kunstlehrerin.[3] Wir haben auch eine große Zahl von TeilnehmerInnen der InSEA Konferenz in Budapest im Sommer 2011 interviewt.[4] Es scheint, dass die Finnen mit diesem Problem nicht allein sind und es in ähnlicher Weise in der ganzen Welt diskutiert wird. „Boys will be boys“, aber dürfen sie das auch im Unterricht sein?

Einige mögen sich fragen, ob es politisch korrekt ist, aus Geschlechterunterschieden im Kunstunterricht eine so große Sache zu machen. Weil sich die Geschlechter in ihrer Einstellung zum Fach Kunst offensichtlich signifikant unterscheiden, glauben wir, dass dies ein wichtiges Untersuchungsgebiet ist. Wir schreiben dies auch als Männer und Väter von Buben, die Erfahrungen aus erster Hand mit dem Kunstunterricht im finnischen Schulsystem haben. Außerdem waren wir in unserer Berufslaufbahn in vielen verschiedenen Bereichen der Kunstpädagogik aktiv tätig.. Wir sprechen deswegen aus fundierter persönlicher Erfahrung.

 

Mädchen zeichnen selten Autos

 Nach unserer Erfahrung interessieren sich Mädchen und Buben für verschiedene Dinge; in der Welt, sowie in ihrer eigenen Umgebung. Also, warum sollte das im Kunstunterricht nicht der Fall sein? Die meisten der von uns in Budapest interviewten KunstpädagogInnen sagten, dass sich Buben und Mädchen in dem, was sie gerne zeichnen, unterscheiden: „Buben mögen Dinge wie Blut, Bomben, Action-Figuren, Roboter, Raumschiffe, usw., während Mädchen Blumen, Pferde, Puppen, Plüschtiere, Hündchen und Aschenputtel- und Prinzessinnen-Geschichten mögen. Andererseits versuchen beide Cartoonfiguren zu zeichnen, z.B. beeinflusst durch die Medienkultur.“ Oft glaubten die Interviewten, dass die Beziehung der LehrerInnen zu den Geschlechterrollen der Kinder und auch das Geschlecht des Lehrers oder der Lehrerin selbst bedeutsam sind. „Wenn LehrerInnen Kinder wegen deren Geschlecht diskriminieren, ist dies problematisch und falsch.“ Mädchen neigen dazu, ein bisschen sauberer zu sein und ein bisschen exakter als Buben zu zeichnen; Buben hingegen zeichnen etwas plumper, aber lebendiger. Aber obwohl diese Unterschiede existieren mögen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Menschen einfach verschieden sind. Verschiedene Menschen interessieren sich für verschiedene visuelle Darstellungen, ohne Rücksicht auf das Geschlecht.

 

Gewalt spielen

 In Finnland sind die negativen Auswirkungen von Gewalt diskutiert worden, vor allem in Beziehung auf die kürzlich vorgekommenen, sinnlosen Schul-Schießereien. Buben, die gerne mit Pistolen spielen, die brutale Computerspiele spielen und die Actionfilme im Fernsehen ansehen, sind ein besonderer Gegenstand der Sorge. Es ist wahr, dass Gewalt ein Modell für Handlungen in der Zukunft sein kann und dass das Internet ein bequemer Weg sein kann, durch den sich dieses Phänomen wie ein Lauffeuer verbreiten kann. Dennoch haben Studien nicht zweifelsfrei beweisen können, dass Gewalt-Unterhaltung einen schädlichen Einfluss hat, zumindest, was normale Kinder betrifft. Noch einmal, als Väter von Söhnen meinen wir, dass in vernünftigen Grenzen das Spiel mit Waffen und das Interesse an Action- Spielen und/oder -filmen für normale Buben normal ist.

Es fühlt sich für Buben normal an, an einem Punkt in ihrem Leben gewalttätige Bilder zu zeichnen. Die Bilder in diesem Artikel stammen von unseren eigenen Söhnen. Obwohl sie gewalttätig erscheinen, sind sie für die Kinder spielerisch. Es sind Bilder, die die Geduld eines Lehrers auf die Probe stellen und nicht in die Schule gehören, aber sie machen in der eigenen Welt der Buben Sinn. Buben runzeln die Stirn darüber, wie die Erwachsenen Gewalt wahrnehmen. Sie finden Gewalt entspannend und wie Aristoteles seiner Zeit feststellte, dass das Bedürfnis nach Gewalt wie eine Befreiung wirkt und eine Katharsis ist.

Riita Vira bekräftigt, dass „Buben nur ermutigt werden, Kunst zu machen, wenn sie als Kind in einem Gebiet der (traditionellen) bildenden Kunst als besonders begabt angesehen werden“. Sind Lehrer nicht gegen gewalttätige Themen, weil sie selbst Gewalt ablehnen und Action nicht erstrebenswert finden? Selbst, wenn wir die Bilder unten nicht gerade unglaublich schön finden, weisen sie dennoch (kunst)pädagogische Werte auf wie Proportion, Bewegung, verschiedene Perspektiven und Erzählweisen, alle aus dem Eigeninteresse der Kinder korrekt ausgeführt. Und, wie Vira sagt: „Buben könnten in der Lage sein, ihre Fähigkeiten unglaublich gut zu entwickeln, wenn sie ihre eigenen Bilder freiwillig machen und zudem Lob für ihr Werk von Gleichaltrigen bekommen.“ Warum bieten wir ihnen als LehrerInnen nicht etwas an, das einen Gewinn aus dem inneren Feuer zieht, das in den Bildern lodert, die die Buben außerhalb der Schule zeichnen? Ungeachtet ihrer Formelhaftikgkeit akzeptieren wir immer noch die Pferdebilder und Manga-Figren der Mädchen. Ein Portugiesischer Kunstpädagoge bestätigte: „Passt die ‚Kunst der Mädchen‘ besser in die Schule? Gut, Lehrer bevorzugen immer die Mädchen, weil es einfacher ist, die Arbeiten der ‚Mädchen‘ als die der ‚Buben‘ zu verstehen.“

BILD 1. Die Vorschulkinder Lauri und Ville Preschoolers Lauri and Ville setzten ihre zahlreichen Tarzan-Spiele in zahlreichen Tarzan-Bildern fort.

BILD 2. Figuren in einem Action-Comic, gezeichnet von Aleksi im Alter von etwa 12 Jahren. 

Eine estnische Kunstpädagogin unterstützt unsere Sichtweise: “Ich glaube, Buben mögen meinen Unterricht. Ich selbst habe einen Buben in dieser Welt großgezogen und ich verstehe die Psyche der Buben ein wenig. Wie sollte die Psyche der Buben im Kunstunterricht Anerkennung finden? Ein Baustein ist wohl die Art, in der der Lehrer auf Gefühle wie Aggression und Ärger reagiert, die, weshalb auch immer, sich verschärfen und dann zwischen den Buben ausbrechen, wenn sie interagieren.“

 

BILD 3: Standbilder aus der Legoanimation „Palm City“ von Aleksi (13)

 

Buben interessieren sich nicht für Kunst, leben aber in einer visuellen Kultur

Es kann sein, dass sich Buben einfach nicht für die selbe Art interessieren wie wir. Obwohl jüngere Buben mit dem gleichen Enthusiasmus zeichnen wie Mädchen, ändert sich dies in der Pubertät. Unsere eigenen Buben würden nie sagen, dass sie Kunst machen, wenn sie irgendjemand überhaupt mal fragen würde. Sie würden wahrscheinlich sagen, dass sie sich für zeitgenössische Kunst nicht besonders interessierten. Dennoch lieben sie Filme, Musikvideos und Computerspiele. Alles, was diese Dinge betrifft, ist spannend, alles wie CD-Covers, Design, Grafikdesign der Videospiele; sie alle haben ihre animierten Filme beeinflusst, sie zeigen mehr Aufmerksamkeit als ihre Väter dafür, wie sie gekleidet sind und wertschätzen die Schönheit der Frauen… Sie alle interessieren sich für visuelle Kultur in ihren verschiedenen Formen.

Wir leben in einer stark bildlichen und noch stärkeren visuellen Welt. Die Bedeutung der Bilder für uns ist exponentiell gestigen. Die zeitgenössische Kultur bewegt sich im Vergleich zur Kultur der Moderne, die sich aus  Aufklärung und Romantik einwickelt hat, im Hinblick auf die Bedeutung der Bilder in einer total anderen Größenordnung. Als Kunstlehrer freuen wir uns natürlich darüber, wie das Alltagsleben der Menschen mehr und mehr visuell geworden ist und sich stetig weiter in Richtung Bildeinsatz entwickelt. Als das erste Mal in ein Mobiltelefon eine Kamera eingebaut wurde, fragen wir uns wie viele andere: warum? Heute folgt uns die mobile Kamera überall hin und gleichzeitig gibt es immer mehr bezahlbare und vielfältigere Digitalkameras. Abgesehen von den teuren Videokameras ist digitales Equipment heute für den Ottonormalverbraucher erschwinglich. Auf dem Computer kann dann jeder mit Bildbearbeitungsprorammen Dinge erreichen, von denen wir am Anfang unserer Lehrerkarrieren nur träumen konnten: Ein Bild, still oder in Bewegung, das auf verschiedene Arten und Weisen verändert werden kann und ein technisches Ergebnis liefert, das vorher nur Professionelle erreichen konnten. Und Ergebnisse werden produziert: Bilder werden gemacht, bearbeitet, durch Instant Messaging gesendet und geteilt, um sich dann in Sozialen Netzwerken daran zu erfreuen.

Die Kinder leben in einer visuellen Kultur und wir können sagen, dass junge Männer heute über einen visuellen Gedankenprozess verfügen, den wir stilles Wissen nennen können. Buben wissen einfach nur nicht, wie sie es im Kunstunterricht verwenden können. Ein Kunstpädagoge aus den Vereinigten Staaten spricht von den Interessen der Buben für Computergrafik und Multimedia, dass dies aber wahrscheinlich der schulische Erfolg der Buben nicht widerspiegelt. „Es gibt auch die faule Seite der Buben; sie wollen schnell aus der Schule heraus kommen. Dies ist also eine wirklich klassische Situation. Die Frauen wollen wirklich die Nummer Eins werden. Frauen stecken eine Menge Energie in ihr Studium. Sie sind immer pünktlich und wirklich organisiert; manchmal mehr als die Männer neben ihnen.“

 

Eine neue Einstellung gegenüber dem Kunstunterricht

Als Kunstlehrer freuen wir uns natürlich, wenn wir sehen, wie sich unser Fach erneuert; oder dass es dies zumindest könnte. Weil jedermann Bilder schießt, möchte jedermann lernen, wie man bessere Bilder schießt. Viele Menschen wollen lernen, wie man eine Kamera benutzt, wie man ein Bild komponiert; viele wollen etwas über die verschiedenen Möglichkeiten der Bildmanipulation und die Methoden lernen, die Wirkung von Bildern zu steigern. Diese Dinge kann man am besten lernen, wenn man Bilder schafft; nicht nur durch zufälliges Drücken auf Knöpfe. Der (finnische) Kunstunterricht basiert vor allem auf den traditionellen Kunstfertigkeiten. Im Unterricht zeichnen, malen und formen wir, aber was noch? Viel zu oft bevorzugt die veraltete Kunstauffassung der KunstpädagogInnen „saubere“ Bilder, die die Eltern stolz an ihre Kühlschränke hängen: Die Art Bilder, die besonders Mädchen für den Applaus von Seiten Erwachsener machen.

Stattdessen könnten wir von der Bilderwelt der SchülerInnen und deren Wertvorstellungen ausgehen; wir könnten Themen machen, die mit ihren Bedürfnisse zu tun haben und aus ihrem Alltag stammen. Wenn wir den Klassenraum öfter verlassen würden und die Lebenswelt der Kinder fotografieren würden, die Dinge, die sie interessieren, Graffiti, Skateboardvideos und warum nicht Pferdreitvideos, das TV-Programm studieren und Soziale Medien konsumieren, sowie auch die intertextuale Umgebung des Internets. Obwohl die Produkte all dieser Aktivitäten nicht in die traditionellen Kunstformen oder -kategorien – ganz abgesehen von den Schulfächern – eingeordnet werden können, könnten sie für die Beteiligten befriedigender sein. So würden Buben und Mädchen vielleicht de n Kunstunterricht als sinnvoll und notwendig für ihre Zukunft sehen.

 

Die Rückkehr zu (bildlichem) Fertigkeiten

Im Kunstunterricht wird Können (skills) verstanden als der Erwerb von verschiedenen Techniken und die Fähigkeit, verschiedene Werkzeuge und Material zu benutzen. Wir interessieren uns mehr dafür, es vom Inhalt her zu betrachten. Methoden sind Methoden, und Werkzeuge sind nur Werkzeuge, mit denen Schüler wichtige Themen entschlüsseln können. Wir sind der Meinung, dass Können durch die eigene Erlebenswelt der SchülerInnen erreicht wird, und dadurch, wie sich ihre Einsichten im Verständnis manifestieren, wie man verschiedene Materialien und Werkzeuge benutzt. In der Bewertung und Beurteilung dieses Könnens sind die SchülerInnen selbst die besten ExpertInnen. Wir glauben, dass es nicht notwendig ist, sich darüber Sorgen zu machen, ob die SchülerInnen Kunst oder visuelle Kultur lernen. Wir wissen, dass selbst, wenn sie keine Künstler werden wollen, sie dennoch gerne Videos machen, Comics zeichnen, Graffitis sprayen oder irgendwas anderes „Visuelles“ machen.

Abschließend kehren wir zu der Frage von Kunst versus visuelle Kultur zurück. Wenn wir die Frage aus Professor Juha Vartos[5] breiter Perspektive betrachten, können wir sehen, dass die Kunst in unserer Welt eine zentrale Rolle spielt und Leben von immer mehr Menschen beeinflusst. Dies liegt nicht nur an der Entwicklung der Reproduktionstechniken in Ton- und Bildrekordern, dem Internet, gedrucktem Material und den Neuen Medien, die es der Kunst ermöglichen, überall zu sein. Unser Lebensstandard und Lebensstil haben es möglich gemacht, Teil dieses kulturellen (Kunst) Phänomens zu sein. Durch die visuelle Kultur, sind junge (Buben) heute de facto näher an der zeitgenössischen Kunst als am traditionellen Kunstunterricht in der Schule. Und Buben würden höchstwahrscheinlich am Unterricht in visueller Kultur Spaß haben.


[1] Laitinen, S.; Hilmola, Antti & Juntunen, Marja-Leena, The education’s follow-up report 2011:1 Primary/Middle school’s music, fine arts and crafts evaluation results of students in grade 9. OPH 2011

[2] Das selbe Phänomen lässt sich in der LehrerInnenausbildung beobachten – männliche Studierende wählen seltener Kunst als Studienfach als Frauen.

[3] Pullinen, Jouko: Riitta Vira’s interview 17.5.2011, Helsinki

[4] Lokka, Antti; Merta, Juha; Mäkelä, Jussi & Pullinen, Jouko (SUMMA SUMMARUM): InSEA Budapest 25. -30.6.2011

[5] Juha Varto 2011 ”Tutkimus taiteen laitoksella” veröffentlicht im Art Education on-line magazine 1/2011

Vastaa

Visual Artist, University Lecturer